Die Homöopathie ist eine Therapieform, die sich im Laufe der Jahre in besonderem Maße entwickelt und verändert hat. Mittlerweile gibt es sehr viele verschiedene Wege, um das passende Mittel zu finden. Zahlreiche Nachfolger Samuel Hahnemanns modifizierten seine Methode und entwickelten sie weiter, so dass heute die Homöopathie auf unterschiedlichste Art praktiziert werden kann. Zudem stellt das heutige Leben andere Ansprüche an den Therapeuten und die Therapie, als das zu Zeiten Hahnemanns der Fall war. Viele moderne Homöopathen arbeiten in ihrer Praxis mit einer Mischung aus unterschiedlichen möglichen Vorgehensweisen. Hier sollen nun einige der Entwicklungen vorgestellt werden, die einen besonders deutlichen Einfluss auf die Homöopathie hatten. Es handelt es sich allerdings nur um einen kleinen Ausschnitt aus der sehr facettenreichen Therapievielfalt.
Jeder, der eine seriöse Ausbildung zur Homöopathie absolviert, lernt die Grundlagen der Homöopathie von Samuel Hahnemann anhand des Organons kennen. Für Hahnemann ist Krankheit die Verstimmung der Lebenskraft durch ein krankmachendes Agens. Dieses krankmachende Agens ist ein dem Leben feindlich gesinnter dynamischer Einfluss.(1) Die Wirkung des krankmachenden Agens kann anhand der Symptome beobachtet werden. Die Krankheit besteht aus ihren Zeichen und Äußerungen und der Arzt hat diese zum Verschwinden zu bringen, und damit ist seine Arbeit getan.(2) In § 104 Organon bringt Hahnemann seine Vorgehensweise noch einmal gut auf den Punkt: „Ist nun die Gesamtheit der, den Krankheitsfall vorzüglich bestimmenden und auszeichnenden Symptome, oder mit anderen Worten, das Bild der Krankheit irgendeiner Art einmal genau aufgezeichnet, so ist auch die schwerste Arbeit geschehen … Der Heilkünstler hat es dann bei der Cur … auf immer vor sich, kann es in allen seinen Teilen durchschauen und die charakteristischen Zeichen herausheben …“.(3)
Das Besondere an der Homöopathie ist und war schon immer, dass Krankheit als etwas dynamisches aufgefasst wird, wobei dynamisch bedeutet, dass die Ursachen von Krankheit vielfältig sein können und ihren Ursprung auf der feinstofflichen Ebene haben. Der Mensch ist eben keine Maschine und die Heilkunst ist eben auch keine mechanisch zu bewerkstelligende Sache. Es geht darum, die Dynamik von Krankheit zu verstehen und ein Heilmittel zu finden, dessen Dynamik ähnlich ist. Diesen Weg hat Samuel Hahnemann vorgezeichnet und seine Nachfolger sind ihm in diesen grundsätzlichen Auffassungen treu geblieben, haben aber etwas unterschiedliche und mehr oder weniger komplexere Lösungswege gefunden.
Professor Vithoulkas – Medizin der Zukunft, Causa und Kegelmodell
Ein einflussreicher Lehrer unserer Zeit ist Professor Georgos Vithoulkas. Seit den 70er Jahren unterrichtet Vithoulkas an seiner Schule in Griechenland Homöopathie und hat viele nachfolgende Generationen von Homöopathen geprägt. Vithoulkas ist der Auffassung, dass es nicht darum geht, möglichst viele Symptome zu sammeln, sondern dass das Wesentliche ist, ein lebendiges Bild vom Patienten und von seinem Leiden zu erhalten. Zuerst beginnt der Kontakt mit der allgemeinen Beschreibung der Krankheit, um dann zum Besonderen fortzuschreiten. Die Beschaffenheit jedes einzelnen Symptoms ist zu erfragen, hinsichtlich Lokalisation, Empfindung, Modalitäten und Causa. Vithoulkas hält sich hier ganz an Hahnemann. Er hat lediglich einen stärkeren Focus auf die Causa in seine Arbeitsweise eingeführt. Nicht nur bei akuten Erkrankungen spielt die Causa eine Rolle, sondern auch im chronischen Geschehen ist danach zu forschen. Gab es z. B. einen geistigen Schock, Kummer, Verlust oder Trennung in der Geschichte des Patienten? Weiter ist es lohnend, nach Krankheiten Ausschau zu halten, die die gesundheitliche Verfassung des Patienten nachhaltig verschlechtert haben. Er nennt in diesem Zusammenhang vor allem Geschlechtskrankheiten, lang andauernde Infektionskrankheiten, Nervenzusammenbrüche und geistig-seelische Gleichgewichtsstörungen.(4) Der Gedanke, dass der Organismus hierarchisch geordnet ist, stellt einen wesentlichen Bestandteil der Theorie von Vithoulkas dar. Zur Erläuterung entwirft er das Modell der drei Ebenen, nämlich der geistigen, emotionalen und körperlichen. Diese drei Ebenen sind hierarchisch angeordnet und beeinflussen sich gegenseitig. Vithoulkas illustriert mit diesem Modell deutlicher, was auch Hahnemann über die Beziehung von Lokal, Gemüts- und Geistessymptomen gesagt hat. Der hierarchische Aufbau setzt sich auch innerhalb der einzelnen Ebenen fort. Vithoulkas arbeitet mit einem kegelförmigen Modell, um sichtbar zu machen, auf welcher Ebene sich eine Pathologie befindet und schließlich, um die Wirkungsrichtung der Arznei zu verfolgen. Wie Hahnemann ist Vithoulkas der Meinung, dass es keine Störung gibt, die nicht den gesamten Organismus ins Ungleichgewicht bringt. Mit dem Modell der drei Ebenen ist jedoch noch einfacher festzustellen, auf welcher Ebene die Hauptstörung liegt. Es ist bei Vithoulkas Vorgehensweise zu sehen, dass er Kategorien Hahnemanns und eigene neue zur Anwendung bringt. Das kegelförmige Modell mit den drei Ebenen ist ein schönes Instrument konstatierte Symptome zu hierarchisieren und ist eine theoretische Weiterentwicklung Hahnemanns Vorgehensweise.
Rajan Sankaran – The Spirit of Homöopathy
Eine sehr einflussreiche und wichtige, moderne Weiterentwicklung kommt aus Indien von Dr. Rajan Sankaran. Er arbeitet und forscht seit vielen Jahren nach einer Methode, die den Patienten in seiner Ganzheit widerspiegelt. Von den körperlichen Symptomen hat er sich dabei weitgehend gelöst. Er gibt zu bedenken, dass in einem Mittel ab der Potenz C12 keinerlei Materie mehr enthalten ist. Deshalb ist davon auszugehen, dass das Arzneimittel keinen direkten Bezug zur Materie hat.(5) Zuerst arbeitete Sankaran mit dem Konzept der sogenannten „Wahnidee“, wobei damit nicht das psychologische Phänomen gemeint ist. Der Terminus beschreibt hier das Arzneimittel in seinem Kern und Sankaran folgt damit dem Bestreben, die Arzneimittel prägnant und kurz darzustellen, so wie das Vithoulkas mit seinen „Essenzen“ von Arzneimitteln auch getan hat.(6) Ein Arsenicum-Mensch beispielsweise hat die Wahnidee, dass andere seinen Mord planen. Daraus resultiert das Gefühl von Unruhe und Unsicherheit.(7) So erschließt sich in einem Bild kurz und prägnant das Arzneimittel von Arsenicum. Ein anderes großes Themengebiet von Sankaran nähert sich den Arzneimittelbildern von der allgemeinen Seite. Hier ist nicht die Frage, was das Besondere an jedem Mittel ist, sondern es wird das Gemeinsame einer Gruppe von Mitteln fokussiert. Hier findet sich die Idee der Mittelfamilien und den Kingdoms. Es gibt die pflanzlichen Mittel, deren Gemeinsamkeit die Empfindsamkeit ist. Im Mineralreich ist das Bedürfnis nach Struktur vorherrschend und bei den tierischen Mitteln geht es um den Wettbewerb.(8) Die Kingdoms sind damit eine wichtige Analysekategorie für die homöopathische Arbeit. Ausgehend von der Arbeit mit den Kingdoms entwickelt Sankaran sein Konzept der Empfindung. Sie beschreibt das Arzneimittel noch wesentlich zuverlässiger und treffender als die oben genannte Wahnidee. Sankaran geht also mit der Empfindung eine Ebene tiefer und schließlich beschreibt er die 7 Ebenen der Fallaufnahme. Die 1. Ebene ist der Name der Hauptbeschwerde, die Diagnose. Auf der 2. Ebene wird diese Beschwerde geschildert. Die 3. Ebene zeigt die Emotion, die Gefühle, die mit der Erkrankung in Verbindung stehen. Auf der 4. Ebene können die Beschwerden und Emotionen mit einem Grunderlebnis, einer Situation verbunden werden. Dies ist die Ebene der Wahnidee. Die 5. Ebene, die Empfindung beschreibt die Grunderfahrung z. B. im Fall von Arsen ein Gefühl von Unsicherheit. Auf der 6. Ebene findet man das Energiemuster der Arzneimittelquelle. Hier ist man im Bereich des Unbewussten und die Quelle des Mittelbildes kann sich in Träumen oder auftauchenden Bildern spiegeln. Die 7. Ebene ist der Raum, der die Energieebene trägt, oder der das Energiemuster beherbergt. Hier bringt Sankaran das Beispiel eines Fußballstadions. Die 7. Ebene ist das Fußballstadion, bevor das Spiel stattfindet. Der Raum, in dem sich das betreffende Ereignis abspielen wird.(9)
Eine Behandlung nach der Lehre Sankarans ähnelt sehr viel mehr einer psychotherapeutischen Sitzung als die herkömmliche homöopathische Anamnese und läuft damit völlig anders ab als eine Fallaufnahme im Stil Hahnemanns oder auch Vithoulkas. Die Sankaran-Methode ist eine große Bereicherung für die moderne homöopathische Praxis in allen Fällen, deren Schwerpunkt im psychischen Bereich liegt. Immer mehr Menschen mit Angststörungen kommen zum Homöopathen. In der Reihe Homöopathie meets Psychologie wurde dieser Tatsache Rechnung getragen und es werden unterschiedliche Fortbildungen zu diesem Thema angeboten. Der Empfindungs-Methode nach Dr. Rajan Sankaran ist ab dem 5. Mai eine 6-teilige Seminarreihe gewidmet.
Dr. Jan Scholten – Mittelfamilien und Periodensystem
Zusammen mit Sankaran hat Dr. Jan Scholten in den 1980er und 1990er Jahren den Grundstein für die Arbeit mit den Mittelfamilien gelegt. Jan Scholten hat durch seine Entdeckungen im Bereich des Periodensystems und der Pflanzenfamilien die moderne Homöopathie maßgeblich geprägt. Mit seinem Periodensystem hat er die Arbeit mit den Mineralien erleichtert. Er findet sowohl in den Stadien (horizontale Ebene) als auch in den Serien (vertikale Ebene) gemeinsame Themen, die in der jeweiligen Richtung eine Entwicklung durchmachen. So entsteht ein Überblick über die Mineralien, der einen schnellen Zugang zu diesen Mitteln erlaubt und auch Kombinationen der Mittel interpretierbar macht. Seine Arbeit bedeutete einen grundlegenden Richtungswechsel der Vorgehensweise in der Homöopathie. Bis dahin wurde immer vom einzelnen Arzneimittel ausgegangen. Die Arbeit mit den Mittelfamilien ermöglicht eine überblicksweise Herangehensweise an die homöopathische Materia Medica.(10)
Analog zum Periodensystem hat Scholten die Pflanzen systematisiert. Im Reich der Pflanzen findet sich ein gigantischer Schatz an Arzneimitteln, die noch nicht alle geprüft sind und nach der Ansicht Scholtens ist es auch nicht notwendig, jede Pflanze der aufwendigen Arzneimittelprüfung zu unterziehen. Durch das Pflanzensystem kann jeder Spezies ein Thema zugeordnet werden. Hier öffnet sich ein weites Feld an Arzneimitteln. Es gibt zahlreiche Stimmen aus dem Kreis von Homöopathen, die der Meinung sind, dass einfach noch nicht alle Mittel, die heute benötigt werden, geprüft wurden. Durch die deduktive Methode Scholtens ließen sich, wenn man dieser Strömung folgen will, einige Lücken schließen. Jan Scholten hat mit seiner Arbeit einen neuen Zugang zur Materia Medica geschaffen und bietet weitere wertvolle Analysemethoden für die homöopathische Praxis.
Dr. Singh Jus – Die Symptome als Sprache der Natur
Dr. Mohinder Singh Jus ist als Schüler des indischen Homöopathen B. K. Bose ein direkter Nachfolger von J. T. Kent. In seinem bekanntesten Werk, „Die Reise einer Krankheit“, legt Jus seine Auffassung von Krankheit dar. Symptome sind keine isolierten Vorkommnisse, die einfach einzeln repariert werden könnten und damit wäre das Problem gelöst. Symptome sind vielmehr die Sprache der Natur. Die dynamische Störung einer Krankheit drückt sich durch Symptome aus. Es gilt den Sinn und die Bedeutung einer Krankheit zu erfassen und ein ganzheitlich passendes Heilmittel zu finden. Werden Symptome lediglich unterdrückt, kommt die dynamische Störung an einer anderen Stelle wieder hervor. Mit Unterdrückungen wird lediglich „Benzin ins Feuer geschüttet“(11), so Jus. Die einen Symptome verschwinden und weitere Symptome kommen an einer anderen Stelle zum Ausbruch. Wahre Heilung bedeutet die Stärkung der Lebenskraft, das Gleichgewicht wird wiederhergestellt, Krankheitstendenzen werden getilgt und es stellt sich der Zustand vor der Erkrankung wieder ein. Damit folgt Jus vollkommen dem Postulat Hahnemanns, dass Heilung bedeutet, den ursprünglichen Zustand des Menschen wiederherzustellen. Das ist ein hoher Anspruch, dem Jus Zeit seines Lebens als Homöopath treu geblieben ist und den er an seine Schüler weitergegeben hat. Ab dem 24. Mai wird in einer 3-teiligen Seminarreihe die Homöopathie nach der Jus-Methode von seinem Schüler Marwin Zander vorgestellt.
Das Werden der homöopathischen Methoden weist also seit jeher eine große Dynamik auf. Es ist nur in Grundzügen möglich, aus dieser Theorien-Vielfalt eine einheitliche Richtung herauszukristallisieren, vielmehr sieht es nach facettenreichen Parallel-Entwicklungen aus, die sich wiederum gegenseitig beeinflussen. Diese Entwicklungen in der Homöopathie sind kreativ, klug und interessant. Mit einem gefestigten homöopathischen Grundwissen macht es Spaß immer wieder neue Herangehensweisen kennenzulernen und möglicherweise für die tägliche Arbeit in der Praxis zu nutzen.
Alexandra Aicher
(1) Hahnemanns Organon der Heilkunst. (Hrsg. C. Classen). Sonntag Verlag 2002. §11.
(2) s. o. §7 Organon.
(3) s. o. §104 Organon.
(4) Vithoulkas Georgos: Die wissenschaftliche Homöopathie. Burgdorf 1993. S. 186.
(5) Sankaran, Rajan: Das geistige Prinzip der Homöopathie. Mumbai 2003. S. 70.
(6) Essenzen homöopathischer Arzneimittel nach G. Vithoulkas. Faust Verlag 2004.
(7) Sankaran, Rajan: Seele der Heilmittel. Mumbai 2000. S. 23.
(8) Sankaran, Rajan: Seele der Heilmittel. Mubai 2000. S. 248.
(9) Sankaran, Rajan: Die Empfindung in der Homöopathie. Mumbai 2006. S. 255ff.
(10) Scholten, Jan: Homöopathie und Minerale. Utrecht 1997. S. 23.
(11) Mohindar Singh Jus: Die Reise einer Krankheit. Homöosana 2019. S. 33.