Wir freuen uns sehr, Ihnen ein Interview mit Anne Schadde aus dem Buch „Pioniere der Homöopathie im 21. Jahrhundert präsentieren zu können. Es geht in diesem Interview um das Organon und seine Bedeutung für die Homöopathie und deren Therapeut*innen. Wie wir finden ein wichtiges Thema. Das Interview wurde freundlicherweise von den beiden Autorinnen Heidi Brand und Anne Devilliard zur Veröffentlichung auf unserer Webseite freigegeben. Vielen Dank dafür.
Wir stellen Ihnen das umfangreiche Interview am Ende des Artikel zum Download bereit.
Anne Schadde (Deutschland) ist Klassische Homöopathin mit 30 Jahre langer Praxiserfahrung. Sie war 1990 Gründungsmitglied des „Homöopathie-Forums“ und des European and International Councils for Classical Homeopathy.
Anne Schadde hat bislang sieben Arzneimittelprüfungen durchgeführt und in Büchern veröffentlicht, die in mehreren Sprachen übersetzt wurden. Dazu gehören: Ozon, Turmalin, Lithium carbonicum, Cypraea (Kaurischnecke), Lignum Aquilaria Agallocha (das Holz, das Herz, der Duft des Adlerholzbaumes), Gingko biloba und Lapislazuli. Sie hat zudem zahlreiche Artikel in internationalen Zeitschriften veröffentlicht.
Seit 27 Jahren ist Anne Schadde Lehrerin im „Homöopathie-Forum“ in Gauting und auch im In- und Ausland als geistreiche und lebendige Referentin gefragt. Sie ist in ihrer Wissensvermittlung sehr inspirierend, ihre Seminare sind dank ihrer hohen pädagogischen Fähigkeiten und ihrer didaktischen Klasse sehr lehrreich.
Anne Schadde ist eine Impulsgeberin. Es geht ihr nicht vordergründig um das Herausfinden des richtigen Mittels, sondern um den Weg dorthin. Ihre Schüler sollen ihre Mittelvorschläge begründen können und werden dadurch gründlich in der Kunst der Differentialdiagnose geschult.
Anne Schadde ist eine Freidenkerin. Geistiges Gut zu vermitteln ist ihr ein besonderes Anliegen
Anne Schadde, Sie sind Klassische Homöopathin, seit 30 Jahren in eigener Praxis tätig und beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem „Organon“. Es gilt als das wichtigste Vermächtnis, das Hahnemann uns hinterlassen hat. Was lehrt uns das „Organon“ – vor allem heute noch?
Meine Beschäftigung mit dem „Organon“ begann 1993, als ich einen Vortrag über Hahnemann und das „Organon“ in Köthen halten sollte. Mir lag es sehr am Herzen zu verstehen, was hinter dem „Organon“ steckt, das wirkt wie ein juristisches Werk mit Paragraphen und unendlich langen Sätzen wirkt und in einer schwer verständlichen alten deutschen Sprache geschrieben ist. Ich fragte mich: „Welcher ‚Geist’ steckt nun in diesem Werk? Kann dieser Geist für uns lebendig werden, so dass wir an dem Geist teilhaben können, mit dem Hahnemann das „Organon“ schrieb? Gibt es etwas, was uns die klaren Anweisungen noch erhellen kann?“
Prinzipiell liebe ich es, Dinge zu hinterfragen, zu erkennen, aufzudecken. Mich interessiert immer, was sich hinter Worten, Begriffen, Problemen und den Themen des Lebens verbirgt. Das ist auch in der täglichen Praxis von Bedeutung, versuchen wir Homöopathen doch, den Patienten auf einer tieferen Ebene zu verstehen. All das hat Hahnemann uns im „Organon“ näher gebracht.
Es ist mir ein Anliegen, in jedem jungen Homöopathen ein Feuer zu entfachen, indem er Freude am Lesen des „Organon“ entwickelt. Denn mit dem „Organon“ vermittelt uns Hahnemann die Begeisterung, zum Überwinden einer Krankheit und damit zum „Ganz-Werden“ des Menschen beitragen zu können. Im „Organon“ kann ich Hahnemanns unermüdliches Bemühen wahrnehmen, uns seinen Weg und die Schritte klar zu machen, die uns das Verstehen der Homöopathie ermöglichen.
Um die Hintergründe nachvollziehen zu können, ist es wichtig, sich erst einmal mit der Zeitqualität von vor 300 Jahren zu beschäftigen, also mit der Zeit der Aufklärung nach der Feudalherrschaft und dem Absolutismus des Mittelalters. Hahnemann lebte von 1755 bis 1843. Die von ihm entwickelte Homöopathie ist ein Kind dieser Zeit der Aufklärung, eine um das 17. Jahrhundert in der Geschichte Europas und Nordamerikas beginnende Bewegung. Man wollte sich von den „alten überholten“ magischen Traditionen und Ritualen des Mittelalters trennen.
Die medizinische Behandlung damals basierte auf Spekulationen in Bezug auf Erkrankungen und Therapien. Hahnemann musste und wollte sich von allen diesen Spekulationen distanzieren. Daher wählte er den Begriff „Organon“ für sein Werk. Schon das Wort „Organon“ zeigt, dass es sich um ein logisches Werk handelt, ein Werkzeug der Argumentation und des systematischen wissenschaftlichen Aufbaus, ein Grundlagenbuch. Aber es ist noch mehr als das, denn in diesem Werk verbirgt sich eine tiefere Ebene, die alter Weisheiten, eines alten Wissens, das Hahnemann von Paragraph zu Paragraph lebendig werden lässt.
Heute heißt das „Organon“ „Organon der Heilkunst“. Zu der 6. Auflage schrieb der bekannte Homöopath Jost Künzli: „Heute richtet sich die gesamte Homöopathie viel mehr nach Hahnemann, der wohl einer der größten Ärzte Deutschlands war, wenn nicht überhaupt der größte überhaupt.“ Wie kam es dazu, dass Hahnemann den ursprünglichen Titel „Organon der rationellen Heilkunde“ in „Organon der Heilkunst“ änderte?
Wesentlich ist zu verstehen, dass jedes Wort, jeder Begriff eine Bedeutung hat. So ergibt sich das Wort „Heilkunde“ aus dem Begriff: kundig des Fachgebietes des Heilens zu sein. „Rationell“ bedeutet „zweckmäßig, durchdacht“, beruht auf einem klaren Verstand und nicht auf Aberglaube. Es ging also um die Frage: Wie wendet man die Heilkunde „zweckmäßig“ und „sinnvoll“ am Patienten an? Wie zuvor erwähnt: In der Zeit, in der Hahnemann lebte, erhoben die Ärzte Theorien, dass zum Beispiel der Hautausschlag eine Erkrankung des Blutes sei und man daher den Patienten zur Ader lassen müsse, um das Blut zu reinigen. Es wurde purgiert, Brechmittel verabreicht, um den Körper von schädlichen Stoffen zu befreien. Oftmals machte dies den Patienten eher kränker als gesünder. Davon wollte sich Hahnemann abgrenzen und zog in den Kampf mit der Ärzteschaft. Er missbilligte öffentlich deren medizinische Praktiken und verurteilte den brachialen Ansatz der damaligen Ärzte.
Hahnemann änderte nach der ersten Auflage im Jahr 1810 den Titel „Organon der rationellen Heilkunde“ mit der zweiten Auflage von 1819 in „Organon der Heilkunst“ um. „Warum entschied er sich für die Änderung des Titels?“, das war die Frage, die ich mir stellte. Und wenn man das „Organon“ genau liest, findet man die Antwort im Text.
Es gab auch noch weitere Auflagen – bis hin zur 6. Auflage, die viel später gedruckt wurden.
Ja, das ist wesentlich, denn auch das ist Teil des „Organon“. Es ist „organisch“ gewachsen, hat sich mit Hahnemann und seinen Nachfolgern bis hin zur 6. Auflage entwickelt. Es ist nicht statisch, sondern in Bewegung, in Entwicklung begriffen. In Bewegung zu sein, sich weiter zu entwickeln, das ist also auch eine Botschaft des „Organon“. Es ist wichtig, die Anweisungen Hahnemanns präzise in seinen Ausführungen zu erkennen.
Nach 60 Seiten Einführung folgen 291 Paragraphen. Diese Paragraphen zeigen eine gewisse Logik, die sich uns beim genauen Lesen erschließt. Wie kann sie uns verständlicher gemacht werden?
Ich möchte wieder kurz auf die Zeitqualität hinweisen, also zum damaligen Zeitgeist zurückgehen. Die Epoche der Aufklärung war eine spannende Zeit, die Zeit der großen geistigen Menschen wie Goethe, Schiller, Mozart usw. Sie alle waren mit der Freiheit des Menschen beschäftigt. Immanuel Kant (1724–1804) definierte die Aufklärung mit dem Leitsatz „Sapere aude“ : „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Daher schrieb auch Hahnemann über sein Werk „Aude sapere“. Er begann mit „Aude“, das heißt: „Traue Dich, wage es…“ Dies verriet, dass bis zur Aufklärung die einfachen Menschen sich nicht trauten, eigenständig zu denken. Für sie wurde gedacht, sie sollten nur glauben. Die Macht der Kirche herrschte und jeder Widerspruch war gefährlich. Da Hahnemann aber den Begriff „Aude sapere“ wählte, sind wir Homöopathen bis in die jetzige Zeit aufgefordert, unseren Verstand einzusetzen und eigenständig zu denken. „Selbst zu denken“ – genau das ist das Vermächtnis Hahnemanns. Dies ist mir sehr wichtig, denn damit ist auch in der Homöopathie der Geist der Freiheit von großer Bedeutung.
Zurück zum logischen Aufbau des „Organon“, beginnen wir mit dem Paragraph 1...
Hahnemann geht vom Paragraph 1 bis zum Paragraph 3 einen Weg, der das gesamte „Organon“ als Ganzes beschreibt. Dann erst kommen die Einzelheiten. Er beginnt damit: „Des Arztes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man Heilen nennt.“ Er beginnt also mit der Definition des Heilens.
Mit dem Ende des Paragraphen 1 geht er über zum Paragraph 2 und erklärt, was nun „Heilen“ bedeutet. Dabei fiel mir auf, dass die Paragraphen des „Organon“ miteinander verknüpft sind. Sie sind kettenförmig aneinander gereiht. Jeder neue Paragraph beginnt mit der Aussage des vorherigen. Es ist nicht gleich offensichtlich, aber doch zu verstehen als die Bildung einer „Kette“ der Paragraphen. Damit gibt Hahnemann uns schon eine weitere wichtige Botschaft: Die „Verbindung“, die „Bezogenheit" ist von Bedeutung.
Hahnemann wählt seine Worte sehr präzise. So beginnt er den Paragraph 2 anschließend mit „Das höchste Ideal der Heilung“, damit steigert er es dreifach. Das ist spannend zu erkennen: denn das „Ideal der Heilung“ an sich ist schon eine Erhebung, dann das „hohe Ideal“ und dann das „höchste Ideal“. Mit dieser dreifachen Steigerung fließt der Geist geradezu in das „Organon“ hinein.
Und dieses höchste Ideal erfolgt nun “sanft, schnell und dauerhaft“ auf dem „kürzesten, zuverlässigsten, unnachteiligsten Wege“ – ein hoher Anspruch! In späteren Paragraphen geht er allerdings zu milderen Formulierungen über.
Weiter geht es nun mit dem Paragraph 3, den Hahnemann wiederum in drei Schritte unterteilt: Im ersten Teil gilt es, im Patienten zu erkennen, „was ist das zu Heilende“, im zweiten Teil geht es um die „Erkenntnis der Arzneikräfte“ und im dritten um die Anwendung im individuellen Fall. Hier benutzt er das Wort „anpassen“, wie ein Schuh, der „ideal“ passt. All das ist wesentlich zu betrachten: Also zuerst die Erkrankung zu erkennen, dann die heilenden Arzneien zu erkennen und dann richtig anzupassen, das sind drei Schritte.
Wenn nun der Rhythmus der Zahlen eine Rolle spielt, fragte ich mich, welche Bedeutung zum Beispiel die Zahl 3 im „Organon“ hat. Die Zahl 3 zu erkennen an der dreifachen Steigerung („das höchste Ideal“) und den drei Adjektiven der Definition der Heilung (“sanft, schnell und dauerhaft“, auf dem „kürzesten, zuverlässigsten, unnachteiligsten Wege“). Der Paragraph 3 ist wiederum in die drei oben erwähnten Schritte aufgeteilt. Diese Logik kann nun weitergeführt werden. Die Drei ist die schöpferische Zahl: Vater-Mutter-Kind. Das ist nicht statisch, sondern stellt eine Bewegung dar.
Hahnemann führt von Paragraph zu Paragraph mit einer ausgefeilten Logik. Wenn er einen Paragraph mit einem Gedanken beendet, nimmt er diesen Gedanken im nächsten Paragraph auf und präzisiert und vertieft ihn. Das zieht sich durch das gesamte „Organon“ hindurch. So beschreibt er systematisch, was Heilung ist, inklusive der Heilungshindernisse und -begünstigungen. Diese Logik erstreckt sich bis zum Paragraph 291.
Genau, und diese Logik muss man erkennen. Nun stellte ich allerdings fest, dass er den Paragraph 3 nicht mit dem Übergang zum Paragraph 4 beendet. Denn er schließt den Paragraph 3 mit den Worten: „… so versteht er zweckmäßig und gründlich zu handeln und ist ein echter Heilkünstler.“ Warum macht Hahnemann das? Er gibt uns einen weiteren Hinweis, der für mich erklärt, warum er den Titel des „Organon“ bereits in der 2. Auflage änderte. Er beschreibt nämlich vom Anfang des Paragraphen 1 bis zum Ende des Paragraphen 3 den Weg vom „Arzt zum Heilkünstler“. Er beschreibt nun im gesamten Organon die Heilkunst.
Heilkunst – weil das zu Heilende beim Patienten erst mal verstanden werden muss?
Ja, genau. Nun, was ist Kunst? Was ist Heilkunst? Hier dürfen wir wieder die Zeitqualität nicht vergessen: In der damaligen Zeit hatte Kunst mit Können zu tun. Wir definieren heute Kunst viel mehr mit Phantasie. Aber zur Kunst gehört ein Können, nämlich das Handwerk zu beherrschen. Aus diesem Grund hat, Hahnemann uns auch das „Organon“ gegeben: Wir sollen dieses Handwerk wirklich beherrschen. Wir sollen genau wissen, wie es geht, indem wir genau nachmachen, was er uns im „Organon“ aufzeigt. Deshalb fordert er uns auf: „Macht es genau nach!“
Zur Kunst gehört neben dem Können auch die Intuition. Für uns Homöopathen bedarf es neben dem Studium der Materia Media also auch der Schulung der Wahrnehmung und der Intuition. So sprechen wir oft von der Kunst der Anamnese, wo dieser Aufgabe Rechnung getragen wird.
Für mich gehört zur Kunst noch das Spiel, denn Spielen setzt Handlungsfreiheit und eigenes Denken voraus. Spielen befreit die innere Wahrnehmung und bringt sie ins Leben. Spiel gibt Raum für eigene Entwicklung. Das sieht man an Kindern, im Spiel entfalten sie sich. Sie tauchen in eine Welt hinein, die in ihnen ist und nicht vom Kopf gesteuert ist. Mit „Spiel“ bezeichne ich auch einen schöpferischen Akt, die Möglichkeit, etwas von einer anderen Seite sehen zu können. Ich nenne es die 180 Grad-Drehung: die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. 180 Grad ist die Spiegelung. In der Praxis gebe ich dem Patienten oftmals die Möglichkeit, aus einer anderen Perspektive auf seine persönliche Welt zu schauen. Dadurch entsteht eine Distanz. Man schaut auf ein Geschehen und kann ein „Drama“ im Leben auch einmal konstruktiver betrachten, nicht immer nur mit Sorge, Kummer, Angst und Verzweiflung. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass damit eine Veränderung im Leben geschehen kann.
Hahnemann hat mit dem Begriff „Heilkunst“ einen großen Bogen gezogen. Natürlich durchzieht er das „Organon“ mit vielen Fakten. Denn er hat vordergründig versucht zu verstehen.
Deshalb ist sein „Organon“ sehr logisch aufgebaut! Wie leitet Hahnemann nun zum Paragraph 4 über? Also wie geht er weiter in der Kette vor?
Ich fragte mich mit Blick auf die Verkettung der Paragraphen, wo die Stelle für die Überleitung vom Paragraph 3 zum Paragraph 4 ist. Sie steht versteckt im Paragraph 3: „… kennt er endlich die Hindernisse der Genesung in jedem Fall und weiss sie hinwegzuräumen, damit die Herstellung von Dauer sei…“ Und damit beginnt dann logischerweise der Paragraph 4 mit den „die Gesundheit störenden und Krankheit erzeugenden und unterhaltenden Dingen“ im Leben des Erkrankten. Damit ist der Übergang zu den weiteren Paragraphen gegeben, denn nach dem Grundgerüst vom Paragraph 1 zum Paragraph 3, das eigentlich alles im Ideal erklärt, braucht es noch weitere Anweisungen.
Das „Organon“ ist das Basiswerk für alle Homöopathen. Es beschreibt die hohe Kunst der Heilung und ist bis heute genauso aktuell und revolutionär wie zu Hahnemanns Zeiten. Warum ist das so?
Das „Organon“ macht uns Hahnemanns Denkart klar: das Denken aus der Beobachtung heraus. Durch genaueste Beobachtung erfuhr und erlebte er das, was er uns vermittelt hat. Er stellte in all seinen Beobachtungen und Versuchen fest, dass auch die Naturheilungen auf Gesetzmäßigkeiten beruhen. So beobachtete er zum Beispiel, dass Kinder, die an einer Hautkrankheit litten und gegen Pocken geimpft wurden, symptomfrei wurden. Die Kuhpockenimpfung rief also Hautausschläge hervor, die einen alten vorhandenen Hautausschlag heilen konnte, da die durch die Impfung hervorgerufene Hauterkrankung der Hauterkrankung des Kindes ähnlich war. Oder er berichtet, wie eine Masernerkrankung einen alten Hautausschlag geheilt hat. So führt er viele Beispiele an und definiert einander „ähnliche“ und „unähnliche“ Erkrankungen. Er setzte also immer alles in einen Bezug zueinander. Letzen Endes kann man sagen, dass Hahnemann durch die Beobachtung der Natur die Heilgesetze wirklich erkannt hat, also nicht theoretisch, sondern aus der Erfahrung heraus. Er war immerfort auf der Suche, und die Beobachtung war sein wichtigstes Werkzeug. Daher ist die Homöopathie eine Erfahrungsheilkunde, eine Erfahrungswissenschaft. Und hier kommen wir wieder auf das Thema der Aufklärung zurück: „Glaube nicht nur, sondern erfahre und denke selbst.“
Das Herausragendste bei Hahnemann war, dass er die Gesetzmäßigkeit hinter der Beobachtung erkannt und mit großer Präzision klare Gesetze formuliert hat. Die außerordentliche Beobachtungsgabe, das klare rationale Denken, die unglaubliche Ausdauer und das unvorstellbare Arbeitspensum gepaart mit einer großen Intuition – alle diese Fähigkeiten machen Hahnemann sehr besonders und sein Werk komplett.
Von Hahnemann wurde berichtet, dass sein Vater ihn in ein dunkles Zimmer einsperrte, um ihn das Denken zu lehren. Damit hat Hahnemann gelernt, nach „innen“ zu denken, eine Innenschau zu erfahren. Er wollte verstehen, die Dinge nachvollziehen.
Sie sprachen vorhin von der präzisen Wortwahl im „Organon“. Vermutlich hat Hahnemann sich ganz genau jedes Wort überlegt...
Ja, ein Beispiel ist das Wort „vorurteilslos“ im Paragraph 6. Was bedeutet „vorurteilslos“? Man liest dieses Wort und hinterfragt es nicht. Aber das ist eigentlich die Aufforderung an den Homöopathen, die Dinge zu hinterfragen – sowohl beim Patienten als auch bei den homöopathischen Heilmitteln.
Hahnemann sprach also im Paragraph 6 vom vorurteilslosen und nicht vom vorurteilsfreien Beobachter. Es war ihm vermutlich bewusst, dass es die Vorurteilsfreiheit gar nicht gibt, sondern dass man immer ein Vorurteil hat und es „los“ werden muss. Damit hat er mit einem Wort ausgedrückt, was wir tagtäglich in unserer Arbeit mit Patienten tun müssen: ihre Themen, ihre Probleme, ihre Art zu denken und zu handeln ohne Bewertung von außen anzuschauen.
Hahnemann spricht auch im Paragraph 6 von der „Gestalt der Krankheit“. Mit diesem Begriff macht er uns klar, dass der Mensch mit seinem gesamten Sein, seinem gesamten Körper, seiner psychischen Konstitution die Krankheit ausdrückt. Ein geschwächter Patient wird in einer anderen „Gestalt“ erscheinen als ein kraftvoller. Daher sind Gesten, Bewegungen jedes einzelnen Menschen Ausdruck der „Gestalt“…
… und sie drückt sich in jedem seiner Symptome aus…
Ja, und in jeder seiner Handlungen, in seinem Äußeren, in all seinen Lebenssituationen, in allen seinen Beziehungen, seinen Körperbewegungen, seinen Lebensproblemen, den „Zufällen“ in seinem Leben, den Unfällen… und das muss in das Gesamtbild der Erkrankung einbezogen werden.
Hahnemann sagt weiter im Paragraph 7: „… dieses nach außen reflektierende Bild des innern Wesens der Krankheit…“ und genau dieses kann man nur beobachten, denn die Krankheit wird vom inneren Wesen auf die Außenfläche reflektiert, also im Körper ausgedrückt. Der Name einer Erkrankung kann heute im Internet gegoogelt werden. Aber wie die Krankheit im Inneren erlebt wird, das ist für uns Homöopathen von Bedeutung. Hahnemann fordert uns auf, das „innere Wesen“ einer Erkrankung zu verstehen. Daher hat er auch nicht die „Zufälle“ im Leben ausgeschlossen. Das ist für uns Homöopathen von Bedeutung: Warum ist mir das „zugefallen“, wieso dieser „Unfall“? Denn alles hat eine Bedeutung im Leben des Menschen.
Auch für die homöopathischen Arzneien geht es darum, das „innere Wesen“ der Arznei herauszufinden. Sie sind keine materiellen Substanzen mehr, sondern „aus der Materie herausgehobene Energien aus den verschiedenen Naturreichen“. Sie sind nach der Potenzierung ab der C12 oder D24 nur noch Schwingung, Energie. Im Grunde repräsentiert die Arznei das „innere Wesen der Arznei“. Denn gemäß unserem Leitsatz: „Ähnliches möge durch Ähnliches geheilt werden“ muss das „innere Wesen der Arznei“ dem „inneren Wesen der Krankheit“ entsprechen.
Vom Paragraph 7 können wir jetzt zum Paragraph 9 springen, in dem Hahnemann das Kernthema der Lebenskraft einführt. Die Idee einer alles durchdringenden Vitalenergie, auch Chi oder Prana genannt, bildet bereits seit Jahrtausenden die Grundlage der östlichen Medizin. Hahnemann nannte diese belebende Lebenskraft „Dynamis“ und spricht damit etwas an, das wir nicht sehen aber das unseren Organismus zusammenhält. Das ist für die damalige Zeit sehr besonders!
Das Wort „Dynamis“ stammt eigentlich von der Philosophie des Aristoteles. Sie ist „das Vermögen, eine Veränderung eines anderen Gegenstandes oder seiner selbst zu bewirken.“ So hat die Dynamis mit Bewegung zu tun. Wie Hahnemann es im Paragraph 9 ausdrückt, hält sie den materiellen Körper in „Gange“. Sie hält ihn am Laufen und verhindert damit den Stillstand: „Im gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper (Organism) belebende Lebenskraft (Autocratie) unumschränkt und hält alle seine Teile in bewundernswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Thätigkeiten, so dass unser inwohnender, vernünftiger Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höheren Zwecke unsers Daseins bedienen kann.“
Damit ist die Lebenskraft kein statischer Zustand, sondern eine Bewegung, die den Organismus belebt. Logischerweise gibt es also auch keine statische Gesundheit, sondern der Paragraph 9 berichtet vom „gesunden Zustande“. Das bedeutet, der gesunde Zustand ist ein Augenblick, nämlich der Augenblick, in dem die geistartige Dynamis (hier verstärkt Hahnemann das geistige Prinzip) den materiellen Körper in „bewundernswürdig harmonischem Lebensgange“ hält.
Hahnemann sagt auch, dass diese geistartige Lebenskraft den Körper nur „verwaltet“. Das heißt, dass das Ganze beeinflusst werden kann, und damit ist der „harmonische Lebensgang in Gefühlen und Tätigkeiten“ irritierbar. Denn Gefühle und Tätigkeiten sind bei keinem Menschen immer stabil, sondern von der Psyche beeinflusst. Die Lebenskraft kann dadurch leicht aus der Balance geraten. Den immer gesunden Menschen gibt es nicht. Die Erfahrung machen wir ja auch. Das Leben ist eine fortwährende Bewegung von der Geburt bis zum Tod.
Dennoch kann ein Ungleichgewicht durch die Homöopathie immer wieder ausbalanciert werden. Das ist das Schöne an dieser Heilmethode. Durch sie sind wir in der Lage, uns dem gesunden Zustand immer mehr anzunähern und ihn dann wieder herstellen zu können. Durch die Beschäftigung mit dem Paragraph 9 habe ich erkennen können, wie wichtig es ist, den erkrankten Menschen durch die Probleme seines Lebensweges zu begleiten und das Licht der Hoffnung in ihm aufrecht zu erhalten. Das ist der dynamische Prozess im Leben des Menschen, das Prinzip der Selbstentwicklung als Prozess.
Seine Ärztekollegen in der damaligen Zeit waren davon aber nicht begeistert! Sie haben den Begriff Lebenskraft nicht mit einbezogen. Ihnen, die nur Aderlässe und Schröpfen kannten, war eine solche Sichtweise absolut fremd.
Ja, mit seinen Erkenntnissen war Hahnemann seiner Zeit sehr weit voraus. Aber heute noch werden seine Theorien leider missverstanden und immer noch belächelt!
Ich nehme gern das Bild von drei Kreisen, die ineinander greifen. Der erste Kreis ist der Körper, der zweite Kreis, der in den ersten hineingreift oder besser gesagt, sich überschneidet, ist die Psyche – die ich hier vom Körper trenne, obwohl sie zum Körper gehört, weil sie den Körper betrifft. Der dritte Kreis ist der wichtigste. Er stellt die Lebensenergie, die Lebenskraft, die Dynamik dar, für die wir Homöopathen das Heilmittel auswählen. Denn diese Dynamik beeinflusst Psyche und Körper und lässt den Patienten körperlich oder seelisch erkranken und auch natürlich gesunden.
Die Natur wird von der gleichen geistähnlichen Energie durchdrungen, die in uns vorhanden ist. Diese Energie ist also auch in Pflanzen und Mineralien. Die Heilmittel, die wir verwenden, kommen aus der Natur, sind aber keine Natur mehr, sondern durch den Prozess der Verdünnung und Verschüttelung oder Potenzierung herausgelöste Energie, reine Information.
Damit kommen wir auf die Herstellungsart der homöopathischen Arzneien. Hahnemann hat nicht Kamille, Gold oder Salz in der rohen Form verschrieben, sondern die Mittel verschüttelt und potenziert, eine richtig geniale Idee!
Die Idee der Verdünnung hatte Paracelsus bereits gehabt. Er sprach von „gradieren“, womit er meinte: „in die Luft zu bringen, das heißt, die Arzneien in einen sehr feinen Zustand zu bringen (von gradus = Grad, Schritt, Tritt, Stufe). Paracelsus hat also die Arzneien verrieben und verändert, aber die geniale Idee von Hahnemann war, durch die Potenzierung das „Geistartige der Arzneien“ zum Vorschein zu bringen.
Er ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Nach der Verreibung und der Verschüttelung hat er gesunde Menschen die potenzierten, von der Materie befreiten Arzneien einnehmen lassen, um die Wirkung jenseits des Substanziellen zu erkennen. Er hat nicht die materiellen Substanzen oder Arzneien getestet, wie es heute in der Pharmazie gemacht wird, sondern nur die aus der Materie heraus potenzierten Arzneien. Die Probanden sollten nun herausfinden, ob sie mit dem „Geist der Arznei“ eine Wirkung auf Körper, Psyche und Energie erfahren. Für Hahnemann war dieser Prozess sehr wichtig, denn in der Fußnote zum Paragraph 141 spricht er davon: „Ferner wird er durch solche merkwürdige Beobachtungen an sich selbst, teils zum Verständnis seiner eignen Empfindungen, seiner Denk- und Gemütsart (dem Grundwesen aller wahren Weisheit: ‚Erkenne Dich selbst’), teils aber, was keinem Arzte fehlen darf, zum Beobachter gebildet.“
Diese Weisheitsworte „Erkenne Dich selbst“, die auf dem Tempel von Delphi standen, geben nur einen Hinweis auf die Erkenntnis und mahnen nicht die Veränderung, Verbesserung an oder kritisieren den falschen Zustand. Hahnemann gibt uns also eine wesentliche Empfehlung mit auf den Lebensweg: Durch Erkenntnis wird man zum Beobachter ausgebildet und erfährt Weisheit.
Wir haben jetzt einen großen Sprung gemacht. Als Hahnemann einen Text über die Chinarinde, die damals bei Malaria eingesetzt wurde, übersetzte, dachte er sich: Diese Chinarinde ist sehr giftig. Brauchen wir dieses Gift, diese Vergiftung des Körpers überhaupt? Würde nicht die Information, der Geist der Arznei, reichen, um den Organismus zu einer Heilung zu bewegen? In ihm ist ein Schritt von der Ursubstanz zu einer C30 passiert. Wie ist dieser Schritt zu erklären? Warum wirkt die potenzierte Arznei besser, sanfter und nachhaltiger als die Ursubstanz?
Das ist genau das, was wir vorhin gesehen haben: Die Krankheit kommt nach Hahnemann immer aus dem „geistartigen“ Bereich und zeigt sich dann in Körper und Psyche. Dieser gigantische Schritt muss zuerst verstanden werden. Daraus folgt, dass alle materiellen Substanzen dieser Erde einen geistartigen Hintergrund haben. Daher können nur „geistartige Arzneien“, die Lebenskraft, die Dynamis heilen…
Nachhaltig heilen! Nicht nur Symptome wegmachen!
Genau, denn die Symptome können verschwinden, wenn die Lebenskraft in einen gesünderen Zustand kommt. Wenn Symptome im Außen weggedrückt werden, heißt es noch lange nicht, dass sie im Innen auch weg sind. Das sehen wir in unserer täglichen Praxis. Man kann die Symptome im Außen wegdrücken, nur sie sind nicht wirklich verschwunden, weil sie nicht aus dem energetischen Bereich verschwunden sind.
Heute beginnt man, durch die Quantenphysik diese Vorgänge wissenschaftlich zu erklären. Es war genial von Hahnemann zu sagen: Die Erkrankung liegt auf einer anderen Ebene, auf einer anderen Schwingung, also im Geistartigen. Auf dieser Ebene setzen wir mit der Heilung an. Und weiter: Wir müssen dem Menschen nicht diese giftigen Ursubstanzen zufügen wie Digitalis oder Belladonna. Wir können das Gift aus den Substanzen herausnehmen und die Information arbeiten lassen.
Ja. Ich verwende oft ein Beispiel mit Belladonna, um das homöopathische Prinzip zu erklären: Wenn man eine Tollkirsche essen würde, würde man Vergiftungssymptome bekommen. Die Prüfung mit potenziertem Belladonna zeigte Fiebersymptome, unterschiedliche Entzündungszeichen, Kälte des Körpers und Hitze des Kopfes, Schweiß oder heiße Trockenheit usw. Nun kommt eine Mutter mit einem Kind, das sich verkühlt hat und dann an hohem Fieber (roter Kopf), Halsentzündung usw. leidet. In diesem Fall kann die potenzierte Tollkirsche (Belladonna) helfen.
Was passiert in dem Moment, wenn das erkrankte Kind potenziertes Belladonna zu sich nimmt? Der Lebenskraft begegnet in dem Moment die Information von etwas „Ähnlichem“, etwas, das den Krankheitssymptomen des Kindes ähnelt. Und damit wird die Lebenskraft angeregt, die eigene Heilfähigkeit zu aktivieren.
In der damaligen Zeit setzte man Reize ein, um den Heilungsvorgang im Körper zu aktivieren. Das ist natürlich auch die Idee der Homöopathie…
… aber auf einer ganz anderen Ebene.
Ja! Damals hat man zur Ader gelassen und gehofft, dass durch diesen Reiz der Organismus heilen würde. Hahnemann hat auch mit seinen homöopathischen Mitteln einen Reiz gesetzt, aber auf einer geistigen Ebene, wie er es uns im „Organon“ ausführlich zeigt. Das heißt, ein homöopathisches Mittel setzt einen geistartigen Reiz. Wie ich schon vorhin sagte: Wenn das Kind bei der fieberhaften Halsentzündung nun Belladonna C30 bekommt, dann wacht der Organismus – vorausgesetzt, es ist der richtige Reiz – durch den Reiz auf und kann reagieren, und die Heilung setzt ein. Der Patient muss also auf der geistigen Ebene angestoßen werden, um seine heilenden Kräfte freizusetzen. Damit sagt Hahnemann etwas Fundamentales: Der Organismus ist immer an Heilung interessiert. Der Mensch ist auf Entwicklung hin ausgerichtet, auch wenn die Heilung des Körpers nicht immer stattfinden kann. Das war auch vermutlich Hahnemanns höhere geistige Schau.
Hahnemann glaubte an die Intelligenz der eigenen Organisation, und dass es auf dieser immateriellen Ebene ganz wenig braucht, damit der Organismus sich wieder aufrichten kann. Er war davon überzeugt, dass der Organismus eigene Kräfte besitzt, sich zu regenerieren.
Unbedingt, aber dennoch erkannte Hahnemann im Paragraph 4, dass es auch Heilungshindernisse gibt, zum Beispiel, wenn der Erkrankte seine Lebensumstände nicht ändern kann – wie zur Zeit Hahnemanns das Leben in feuchten Räumen. Aber auch psychische Probleme, die Hahnemann in seinen Ausführungen im Buch zu den chronischen Krankheiten genau definiert, erschweren die Heilung. Er nennt „Gram und Verdruss die größten Zerstörungs-Mittel des Lebens“. Der Prozess der Erkrankung läuft dann weiter und kann nicht gestoppt werden – und der Patient wird nicht gesund. So hat Hahnemann damals die chronischen Erkrankungen, die heutzutage massiv zugenommen haben, definiert.
Als sich Hahnemann eingehend mit den chronischen Erkrankungen beschäftigt hat, ist er auf die bahnbrechende Idee der zugrunde liegenden Miasmen gekommen. Er erkannte drei Grundmiasmen, die wir 200 Jahre danach mit Miasmen unseres Zeitalters erweitert haben. Warum hat Hahnemann sie überhaupt ins Spiel gebracht?
Hahnemann beschäftigte die Frage, warum Menschen, auch wenn sie durch beste Heilmittel in einen gesunden Zustand kamen, erneut und oft noch schwerer erkrankten. Er fragte sich, was die Ursache für diesen im Grunde chronischen Krankheitsverlauf sein konnte. Und so ging er von einem Ur-übel aus, einer ererbten Krankheits-Disposition, einer im übertragenden Sinn chronischen Erkrankung, mit der der Mensch schon auf die Welt kommt. Diese formt auch fortan Körper und Seele, hat einen dynamischen Charakter, ist also im homöopathischen Sinne „geistartig“.
Er unterschied drei chronische Miasmen: die Psora (psorische Hauterkrankungen), die Sykosis (sykotische Warzenwucherungen) und die Syphilis (syphilitische Zerstörungen). Wir dürfen nun in der Homöopathie nie das große Konzept vergessen: Es geht nicht allein um die Erkrankung des Organismus, sondern um die sich dahinter befindende geistartige Psora oder Sykosis oder Syphilis. Wir dürfen in der Homöopathie niemals Materie und Energie verwechseln. So wie wir wissen, dass jede Erkrankung zuerst den energetischen Charakter hat, der dann Körper und Psyche formt.
Hahnemann sagt, dass der Mensch diese Erkrankungen aus der Vererbung mitbringt. Hinzu kommt, was er noch in der Lebensphase erwirbt, in der er sich befindet.
Ja, all das kann das dynamische Prinzip beeinflussen. Wir dürfen nie vergessen, dass die Dynamis die wesentliche Schaltstelle ist, das dynamische Prinzip. Denn es ist immer die Empfänglichkeit auf der „geistartigen“ Ebene, die eben nicht materieller Natur ist, die erkranken lässt. So ist die Empfänglichkeit für eine Erkrankung vorher da, erst dann wird der Körper krank. So wie ein Kind auch dann erkrankt, wenn die Lebenskraft in einen schwächeren Zustand geraten ist, wenn „die Gefühle und Tätigkeiten“, die im Paragraph 9 erwähnt werden, irritiert sind.
Welche Paragraphen im „Organon“ berühren Sie persönlich und sind für Sie in Ihrer Praxis für die Verschreibung einer Arznei wesentlich?
Ein wesentlicher Paragraph ist für mich der Paragraph 83 „Diese individualisierende Untersuchung eines Krankheits-Falles, wozu ich hier nur eine allgemeine Anleitung gebe und wovon der Krankheits-Untersucher nur das, für jeden Fall Anwendbare beibehält, verlangt von dem Heilkünstler nichts als Unbefangenheit und gesunde Sinne, Aufmerksamkeit im Beobachten und Treue im Aufzeichnen des Bildes der Krankheit.“ Hahnemann hat den für die damalige Zeit sehr wichtigen Begriff der Individualisierung eingeführt. Der „Krankheits-Untersucher“ muss unten drunter suchen und nur das Anwendbare und nicht alles, was den Patienten betrifft, behalten. Das ist ein wesentlicher Punkt in der Behandlung des Patienten. Auch die Worte „Unbefangenheit und gesunden Sinne“ sind wichtige Voraussetzungen.
Hiermit erklärt Hahnemann die Vorurteilslosigkeit…
Ja, das meint er damit. Und wichtig ist für mich, wie gesagt, die Individualisierung. Die Voraussetzung, um individualisieren zu können, ist, dass der Heilkünstler sich selbst in einem Prozess der Individualisierung befindet. Denn nur so kann er sich auf „gesunde Sinne und Unbefangenheit“ verlassen, ohne gleich von Meinungen und Verurteilungen beeinflusst zu werden. „Aude sapere“ ist die Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. All das sind Grundvoraussetzungen für den Krankheits-Untersucher.
Können wir zu dem wichtigen Paragraph 153 kommen?
Von den Paragraphen 1 bis 70 geht es im „Organon“ um die theoretischen Grundlagen und von 71 bis 291 um die Praxis der Homöopathie.
Während der Paragraph 83 beschreibt, was die Aufgaben des Homöopathen sind, beschreibt der Paragraph153 die Voraussetzungen für die Wahl des passenden Heilmittels. Der Paragraph 153 erklärt die Präzision des Ähnlichkeitsprinzips, auf welche Symptome Wert gelegt werden soll, nämlich auf die „auffallendern, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenseitlichen Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles.“
Wenn ein Patient ein ganz spezielles, ungewöhnliches Symptom zeigt, dann ist es von Wichtigkeit, denn es ist Ausdruck des Individuellen. Die Gestalt der Erkrankung, die Haltung des Menschen der Krankheit gegenüber, also wie er mit ihr umgeht – all das sind wesentliche Punkte, um mich dem Patienten und dem Wesen seiner Krankheit zu nähern.
In meiner mehr als 30-jährigen Praxis schaue ich fortwährend, wo das Individuelle im Patienten ist und wie ich dies in ein passendes Heilmittel umsetzen kann. Hinzu kommt, dass jeder Mensch, der sich individuell verstanden fühlt – das heißt, von dem Heilkünstler gespiegelt wird – beginnen kann, auf einen Entwicklungsweg zu gehen.
Hahnemann erklärt dies Schritt für Schritt…
Er nimmt den Homöopathen bei der Hand. Daher ist es so beglückend, das „Organon“ zu lesen. Man spürt eine Energie, die einen an die Hand nimmt, aber gleichzeitig frei lässt…
Die Homöopathie wird in den letzten Jahren immer mehr angegriffen. Je populärer sie wird, desto massiver ist der Kampf gegen sie. Machen Sie sich Sorgen darüber, dass die Angreifer immer stärker werden?
Ich habe einen Leitsatz: „Das, was auf geistigen Prinzipien beruht, kann niemals zerstört werden.“ Man kann also im Außen alles zerstören, aber man kann nie etwas Nicht-Materielles zerstören. Das dynamische Prinzip bleibt, auch wenn die Angriffe groß sind. Diese Angriffe können auch eine gewisse Zeit einen Stillstand unseres Berufsstandes hervorrufen, aber damit geht das geistige Prinzip der Homöopathie nicht verloren. Und es geht um die ganze Erde. Wenn wir die Welt als einen Organismus verstehen – wie den einzelnen Menschen vom Beginn des Lebens bis zum Tod –, so ist auch die Welt in Bewegung und Entwicklung. Natürlich sind auch Gegenkräfte vorhanden, aber auch sie können Katalysatoren für die geistige Entwicklung darstellen. Der Sinn dahinter ist das „Erwachen“ des modernen Menschen. Der Mensch lernt, zu „erkennen“. Diese Aufforderung ist wesentlich, um ein anderes Bewusstsein zu erreichen.
Diese Bewegung und Wandlung gilt auch für die Materie und die Wissenschaft. Wandlung ist der wichtigste Teil des Lebens, die Dynamik des Lebens. Wandlung führt zur Weiterentwicklung. Wahrscheinlich hätte Hahnemann auch noch weiter an seinem „Organon“ gefeilt, denn nichts ist wirklich statisch, sondern alles ist in Bewegung.
Hahnemann hat von Selbstversuchen gesprochen. Sie haben sieben Arzneimittelprüfungen geleitet und veröffentlicht. Was hat Sie zu diesen Prüfungen geführt?
Hahnemann prüfte die Chinarinde, weil er Fragen zu den Aussagen der damaligen Zeit über die Wirkung der Chinarinde hatte. Er nahm es nicht einfach so hin, sondern stellte Fragen, war neugierig. Man sollte also nie aufhören zu fragen, dies ist ein weiterer Grundsatz. Hahnemann prüfte auch Mercurius, Quecksilber, weil es zur Behandlung der Syphilis-Erkrankung eingesetzt wurde, und fragte sich, welche Symptome potenziertes Mercurius erzeugen würde. Er potenzierte und prüfte auch Lycopodium. Lycopodium, weil inert, erfüllte gute Trägervoraussetzungen in Pillen für giftige Substanzen wie Digitalis usw. Die Menschen nahmen damals dadurch viel Lycopodium zu sich. Nun fragte sich Hahnemann: Welche Symptome entstehen durch potenziertes Lycopodium? Zusammenfassend kann man sagen, dass er auf die Themen, Bedingungen, Gifte, Verunreinigungen der damaligen Zeit schaute. Daher fragte ich mich, ganz in der Tradition Hahnemanns, im Geist des „Organon“, in den Anfängen der 1990er-Jahre: „Was ist in dieser Zeit von Bedeutung?“ „Was schädigt den Menschen, macht ihm Probleme?“ Damals war die zerstörte Ozonschicht ein großes Thema. Ozon reicherte sich auf der Erde an und vergiftete die Menschen, machte sie krank. Die materielle Bedeutung konnte ich verstehen, aber was ist die geistige Energie hinter Ozon? Das habe ich versucht herauszufinden.
Daraus wurde ein Buch, und es folgten weitere...
So ging ich den Weg weiter. Nach ein, zwei Jahren fragte ich mich: „Was ist jetzt die Zeit-Qualität?“ Es begegneten mir Patienten, die wegen manischer Depression mit Lithium-Salzen behandelt wurden. Lithium-Salze wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der Medizin eingesetzt. Ich erlebte auch die Nebenwirkungen an den Patienten durch die Behandlung mit diesen Salzen. Damals war Lithium in der Homöopathie nicht wirklich erforscht, also wollte ich herausfinden, was der Geist in potenziertem Lithium carbonicum uns erzählen konnte.
Als ich mich vor vielen Jahren mit Hahnemanns Herstellung der Arznei Causticum beschäftigte, war ich erstaunt, welch alchemistischer Prozess hinter Causticum steckte. Nun begab ich mich auf die Suche nach einer Substanz, die durch einen alchemistischen Prozess gegangen ist. Mit dem Apotheker entschieden wir uns für die Verreibung eines Räucherholzes, nämlich des edelsten Räucherholzes der Welt, dem Adlerholz, in der Tradition der Sufis „Oud“ genannt. Die Verreibung fand im Augenblick des Verglühens des Holzes statt. Es ging nicht um die Potenzierung des verbrannten Holzes, sondern um den alchemistischen Prozess selbst, in dem Augenblick, als aus dem Holz der Duft frei wurde, der zu den Kostbarkeiten der Räucherzeremonien gehört. Die homöopathische Prüfung nun zeigte uns auf, wie die Arznei Ligum Aquilaria Agallocha für den heutigen Patienten wertvoll sein könnte.
Eine wesentliche Prüfung war auch noch die Prüfung der Kauri-Schnecke (Cypraea) im Jahr 2000, als es um die Diskussion vom Wechsel der DM hin zum Euro ging. Wie war dieses Geld-Phänomen zu verstehen? So wollte ich mich mit einem Urgeld beschäftigen. Dieses Ur-Geld war die Kauri-Schnecke, eine Art Tauschgeld. So fand – was ich später entdeckte – zum selben Zeitpunkt (zeitliche Synchronizität) noch eine Ausstellung im Museum „Natur und Mensch“ in München mit dem Titel: „Wollt Ihr Euros oder Kauris" statt. Das war die „Qualität der Zeit“. So wird immer alles im Leben „gespiegelt“, darauf kann man vertrauen.
Meine letzte Prüfung war 2009 die Prüfung des Turmalins, des Edelsteins des Regenbogens. Die Entscheidung für dieses Mittel hatte verschiedene Gründe. Ein Grund war meine Beschäftigung mit Goethes „Märchen“, eine nicht leicht zu verstehende Erzählung. Goethe spricht von einer neuen Zeit und schreibt von der Jahrtausendwende, vom Brückenbau zur Jahrtausendwende. Nun gab es zu Goethes Zeit gar keine Jahrtausendwende, was meinte er wohl? Meinte Goethe vielleicht den Übergang in das 21. Jahrhundert? Goethe schreibt von Edelsteinen, denn die bauen die Brücke hin zur neuen Welt.
Der Apotheker der Enzian-Apotheke in München, Walter Schmitt, brachte mich auf den Turmalin. In all den Jahren und mit all meinen „Versuchen“, die Tradition der alten Homöopathen weiterzuführen und unsere Materia Medica durch neue Arzneien zu erweitern, stand mir Walter Schmitt als Apotheker ein beständiger Freund zur Seite. Auch diese Anweisung gab Hahnemann: Alle Verreibungen und Verschüttelungen mit den Erfahrungen eines Apothekers zu bereichern. Im Turmalin, dem Edelstein des Regenbogens, ist das Licht eingesperrt. Die Farben des Regenbogens sind im Inneren versteckt. Der Turmalin ist aufgrund seiner verschiedenen chemischen Elemente das komplexeste Mineral der Erde. Er formt mit seinen vielen Farben einzigartige Naturkunstwerke. Turmaline haben einen Bezug zum Licht des Erdinnern. Man hatte erst Anfang des vergangenen Jahrhunderts die entsprechenden Werkzeuge zur Verfügung, um den Stein zu schneiden. Damit kam erst vor 100 Jahren das Licht zum Vorschein, und der Stein gewann an Bedeutung und an Wert. Durch eine Verreibung und Verschüttelung des Steines und die folgenden Berichte und Erlebnisse der Probanden mit der potenzierten Arznei erfuhr ich viel über den „Geist“ der Edelsteine. Sie bringen versteckte oder verborgene Anteile des Unbewussten ans Tageslicht, da die Erkenntnisse der heutigen Zeit noch tiefere Prozesse ermöglichen.
Hahnemann gab den Impuls „dieses nach außen reflectirende Bild des innern Wesens der Krankheit, d. i. des Leidens der Lebenskraft...“ (Paragraph 7 Organon) zu erkennen. Dem sind neben den großen Homöopathen Allen, Clarke, Kent noch andere Wissende wie zum Beispiel Rudolf Steiner, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung gefolgt und haben die Welt mit ihren Erkenntnissen bereichert, so dass wir im 21. Jahrhundert weitere Schritte gehen können, um dem erkrankten Menschen die ihm gemäße Hilfe geben zu können. Durch Hahnemann mit seinem „Organon“ wurden diese Wege initiiert.
Zusammenfassend kann ich sagen: Ich führe gerne unsere Tradition im Geiste Hahnemanns weiter, inspiriert durch die erweiterten Erkenntnisse der Homöopathen der vergangenen Jahrhunderte nach Hahnemann und der kreativen Homöopathen unserer Zeit, die die Homöopathie zu dem geführt haben, wo wir heute stehen: im Zeitgeist des Augenblicks. Das Erbe Hahnemanns habe ich ganz bewusst und mit viel Freude und Liebe angetreten.
Literatur:
Anne Schadde: